Wenn die Welt kopfsteht - Ein bezaubernder Roman aus Mazedonien


Wer den Namen noch nicht kennt, sollte ihn sich dringend merken: Vlada Urošević, 1934 in Skopje geboren, einer der wichtigsten Autoren mazedonischer Sprache. Der Literaturwissenschafter hat zahlreiche Romane, Gedichtbände und Essays veröffentlicht, ist Mitglied verschiedener Akademien (darunter der Académie Mallarmé in Paris) und auch als Übersetzer tätig. Mit dem Roman «Meine Cousine Emilia», den Benjamin Langer in ein funkelndes Deutsch übertragen hat, ist ihm ein Buch von magischer Sogkraft gelungen.

Wir befinden uns im Zweiten Weltkrieg, in Skopje und Umgebung. Von Griechenland aus setzen die Deutschen ihren Eroberungsfeldzug Richtung Mazedonien fort. Bei Bombenalarm flieht man in Luftschutzkeller, es herrscht Mangel an Lebensmitteln, Armut und Angst sind gross. Auch die weitläufige Familie des Ich-Erzählers lebt mitten in diesem Chaos, als unerwartet das Mädchen Emilia auftaucht. Sie ist elf und die Cousine des damals Achtjährigen, man gibt sie in die Obhut der Grossfamilie. Mit der «kleinen Hexe» ändert sich schlagartig alles, die ohnehin aus den Fugen geratene Welt driftet ins Phantastische ab, schlägt seltsame Pirouetten, transzendiert Zeit und Raum.

So zumindest erinnert sich der Ich-Erzähler, den Emilia in verbotene Zonen der Wirklichkeit und des Traums, der Sehnsüchte und Phantasien entführt, eine somnambule Gratwanderin von keckem Charme. Nein, es geht nicht mit rechten Dingen zu, wenn plötzlich eine Elefantenherde über die Brachen des Stadtrands jagt, wenn ein Einhorn im Stall grast und die Kinder sich in einer kalten Winternacht in einem Zug wiederfinden, der ohne Lokomotive im Schnee festsitzt. Emilia nimmt die Dinge gelassen, als wären sie das Normalste auf der Welt, und auch nach den labyrinthischsten Irrgängen – durch Basarviertel, Barbierstuben, zerstörte oder verlassene Randbezirke – findet sie den Weg zurück.


Der Abenteuer sind viele. Sie spielen sich in alten Hammams und Hotels ab, wo die Kinder Zeugen seltsamer Geheimzusammenkünfte werden, jenseits aller Gegenwart. Durch die bizarren Szenerien geistert Opa Simon mit seinen alten Karten und Atlanten, aber auch Muto, der «stumme Stadtstreicher». Nur die zahllosen Tanten bleiben bodenständig in ihren Küchen, heizen die Öfen mit Stromrechnungen, Poesiealben und Einladungen zu lang zurückliegenden Maskenbällen, vom Spuk der Restwelt scheinbar unberührt.

Vlada Urošević zaubert Kaskaden surrealer Bilder aus seinem Hut, verwirbelt die Zeiten, nimmt Metaphern beim Wort. Dieselben Lehrer, die den Kindern drohen, sie würden von der Schule fliegen, springen eines Tages aus dem Fenster und treiben, während ein heftiger Sturm aufkommt, davon. So handhabt der Autor seinen magischen Realismus, der – grundiert vom Kriegsgeschehen – einer «höheren» Logik folgt.

Das kühne Konzept würde freilich nicht aufgehen, wäre da nicht Vlada Uroševićs sinnliche, nuancenreiche Sprache, die alle Register zwischen Ernst und Komik, Poesie und Absurdität zieht und dem Märchenton auch bittere Ingredienzien beimischt. Das Unheimliche lauert auf Schritt und Tritt, in Naturbeschreibungen ebenso wie in Schilderungen eines ausser Rand und Band geratenen Lebens. «Die Zäune waren an vielen Stellen durchlöchert, es fehlten Latten. Das Unkraut gedieh üppig, wild und verrückt, wie Schaum auf den Lippen eines Idioten, in dem riesige, masslose Worte heranwachsen, ohne ausgesprochen werden zu können, und immer mehr anschwellen, bis sie in Grösse und Form die Öffnung des Mundes übertreffen.»

Übrigens gibt es ein Nachspiel. Jahre, wenn nicht Jahrzehnte nach Kriegsende, das die Protagonisten getrennt hat, begegnet der Ich-Erzähler seiner Emilia in einem Pariser Briefmarkenladen. Zufall oder Fügung, wer weiss. Eine dreieckige Briefmarke wird zum Erkennungszeichen. Und diesmal geht ein langersehnter Traum in Erfüllung: Die beiden lieben sich, in einem Zimmerchen, an dessen Wänden «alte Landkarten und eine Mondkarte mit erotisch schwellenden Höckern und den Kratern von Meteoriteneinschlägen» hängen.

Vlada Urošević: Meine Cousine Emilia. Roman. Aus dem Mazedonischen von Benjamin Langer. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2013. 236 S



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