ROMAN "FREUDS SCHWESTER" Zum Nichts verurteilt

Der Shootingstar Goce Smilevski und sein fast feministischer Roman: "Freuds Schwester".

Die Stille um Adolfine Freud sei so laut gewesen. Also machte sich Goce Smilevski, 1975 in Skopje geboren, auf die Suche und schrieb nach mehrjähriger Recherche seinen dritten Roman: Freuds Schwester. Vorbei war’s mit der Stille, zumindest für den Autor: 2011 erhielt Smilevski den Literaturpreis der Europäischen Union, sein Buch wurde weltweit übersetzt, die internationale Presse feierte ihn als neuen Tolstoi und verglich ihn euphorisch mit Hermann Broch und José Saramago. In Mazedonien, erzählt sein deutscher Übersetzer Benjamin Langer, kürte man zwar schon sein zweites Buch Gespräch mit Spinoza zum "Roman des Jahres", aber seitFreuds Schwester ist Smilevski der Shootingstar.

Und Adolfine Freud? Die sagt als Smilevskis Icherzählerin: "Die Schatten gehören zu den Wundern des Alltags, die meist unbemerkt bleiben", und taucht aus dem Strom der Geschichte auf. Ihr Autor ist kühn. Er vermutet, erfindet, suggeriert – und ignoriert, dass von Sigmund Freuds fünf Schwestern nur wenige Zeugnisse überliefert sind. Vor der Kulisse des gut dokumentierten Lebens ihres berühmten Bruders und den politischen und sozialen Bewegungen im Wien der Zwischenkriegszeit entreißt er ihre Existenz dem Vergessen.

Smilevskis Adolfine wird aus einem Widerspruch geboren: In einem Brief an Martha Bernays schreibt Sigmund Freud mit Zuneigung von seiner vierten Schwester. Bemerkungen seines Sohns Martin legen dagegen nahe, dass Adolfine Freud in der Familie wenig geachtet wurde. In diese Lücke zwischen Zuneigung und Verachtung entwirft Smilevski das Leben einer intelligenten, aber auch passiven Frau, die als einzige der Freud-Schwestern unverheiratet und kinderlos geblieben ist, die unglücklich geliebt, abgetrieben und sich vor dem familiären und gesellschaftlichen Druck in die Psychiatrie gerettet hat. "Mutterschaft", "Blut" und "Wahnsinn" sind die Leitmotive, auf die Smilevski die Konfliktzonen der Emanzipations- und Repressionsbewegungen verkürzt, in denen eine jüdische Frau im Wien der Jahrhundertwende zerrieben werden konnte.

Smilevski stellt Adolfine weitere prominente Zeitgenossinnen zur Seite. Klara Klimt zum Beispiel. Die Schwester von Gustav Klimt lässt er um politische Rechte kämpfen, um die Zulassung zu Universitäten, darum, Hosen tragen zu dürfen, und er lässt sie daran zerbrechen.

Bevor Adolfine sich im Moment ihres Todes an diese Leben erinnert, eröffnet Smilevski mit einer unerhörten Begebenheit seinen Wettkampf mit der Geschichtsschreibung: Als der krebskranke Sigmund Freud 1938 mit seiner Familie aus Wien flieht, nimmt er seinen Arzt, dessen Familie und Chow-Chow "Jofie" mit. Die eigenen Schwestern aber lässt er zurück. 1942 werden sie deportiert und von den Nazis ermordet.

Wir wissen nicht, ob die über 70-jährigen Damen Wien nicht verlassen mochten oder aus welchen Gründen der 82-jährige Freud für sie keine Ausreise- und Einreisegenehmigungen organisieren konnte oder wollte. Smilevski stellt es so dar: Der egozentrische Bruder hat seine Schwestern verraten. Fahrlässig wäre diese Deutung, wenn Smilevski einen historischen Roman geschrieben hätte. Hat er aber nicht, und darum stellt er den Versuch, dem "Menschlichen" auf die Spur zu kommen, und seine literarische Strategie über die Beweisbarkeit: Durch diesen Anfang verschränkt er das jüdische mit dem weiblichen Schicksal und legt die Perspektive dieser Lebenserzählung fest oder vielmehr Adolfines Perspektivlosigkeit. Von Beginn an wurde sie durch ihre Zeit zum unglücklichen Nichts verurteilt.

Das ist eine riskante, oftmals Unbehagen bereitende Konstruktion, weil sie eher historische Vorgänge verzerrt als eigenständige literarische Wahrheit schafft. Die Bezüge zwischen Antisemitismus, jüdischer und weiblicher Identität sowie psychoanalytischen Theorien sind nicht leicht nachzuvollziehen, und Adolfine wird als Erzählerin immer dann unglaubwürdig, wenn Smilevski ihr essayistische Ausführungen in den Mund legt.

Andererseits haben wir es hier mit einem Autor zu tun, der seine Geschichten an den großen Entwürfen entzündet, die Europa und die Welt revolutioniert haben. Smilevskis Anspruch ist es, solche Theorien und ihre museal erstarrten Protagonisten mit den Lebenserzählungen ihrer Zeit zu verbinden und in Richtung Gegenwart zu öffnen. Wer also dieses Buch nicht als biografische und historische Engführung liest, der wird den Versuch erkennen, neuen Raum für das einzelne Leben zu öffnen.

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