Mazedonische Folklore - ohne Mazedonier

Worpswede ist reich an kulturellen Preziosen. Eine von ihnen funkelte bisher weitgehend im Dunkeln. Denn die Mazedonische Volkstanzgruppe „Ajde Igraij“, zu Deutsch „Komm’ tanzen“, tritt selten öffentlich auf. Dabei besteht sie schon seit 20 Jahren. Spiritus Rector ist Lothar Frase, ein pensionierter Lehrer aus Weyerdeelen. Die Mitglieder kommen aus Worpswede, Lilienthal, Elsfleth und Oldenburg. Aus Mazedonien stammt keiner.

Die Februar-Sonne brennt, das ist hinter den Glasscheiben des Wintergartens zu spüren. Brütende Hitze breitet sich aus, als plötzlich Musik ertönt, fremd klingende, den Zuhörer von den ersten Takten an in den Bann ziehende Töne und Rhythmen.

Tapan und Gajda

Lothar Frase überlegt nicht lange, als er gefragt wird, welche Instrumente in dem von seiner Frau Brigitte ausgewählten Reigen erklingen. Es sind die Tapan, die zweifellige Rahmen-Trommel, die Gajda, eine aus Ziegenhaut bestehende Sackpfeife, südslawische Variante des Dudelsacks, und der Kaval, die lange Rohrflöte.



Lothar Frase steht auf, ergreift die rechte Hand seiner Frau. Seitlich zueinander stehend, beginnen sie langsam, sich im Takt zu wiegen und zu schreiten. Die Musik gewinnt an Schnelligkeit, erinnert ein wenig an den Säbeltanz aus Aram Chatschaturjans Gayaneh-Ballett. Während das Tempo der Schritte zunimmt, werden die zunächst gegen die Hüften gestemmten Arme ausgebreitet, um allmählich nach oben zu wandern. Eine Choreografie, die perfekt zur Musik passt. „Das sind uralte Tänze, teilweise sind sie aus dem Mittelalter überliefert worden“, sagt Frase mit einem Anflug von Stolz in der Stimme, als er sich wieder gesetzt hat. Der 79-jährige Worpsweder ist kein bisschen außer Atem. Es war ein Pravo (Rechtsherum), den die Eheleute eben getanzt haben. Sie können auch einen Odeno Topansko aufs Parkett legen, einen Dolgato oder einen Nevestinsko. Frase weiß nicht genau, wie viele Tänze er beherrscht. „Zwischen 60 und 70 werden es sein.“ Alles mazedonische, wohlgemerkt. Er hat sie alle im Kopf. „Schriftlich niedergelegt ist nichts.“

Seit 1994 wöchentliche Treffen

Seit 1994 trifft sich die Gruppe wöchentlich. Zunächst in privaten Räumen, im Philine-Vogeler-Haus, in der Schule in Worpswede, wo Frase einst unterrichtete, und seit einigen Jahren nutzt sie einen „Mini-Tanzsaal“ im Worphauser Nils-Stensen-Haus. Dort sind die gut ein Dutzend Folklore-Fans, darunter vier Männer, auch schon öffentlich aufgetreten. Beim Handwerkermarkt auf dem Lilienhof gaben sie ebenfalls Gastspiele. Außerdem erhielten sie Einladungen zu Gartenfesten und Hochzeiten.

Tänzer und Tänzerinnen kommen aus ganz unterschiedlichen Berufen. Gärtnerin ist eine, der andere Lehrer, der dritte Hausmeister und der vierte Jurist. Mazedonier ist aber keiner von ihnen. Woher also kommt dann diese tanzende Verbindung? Die Tanzfreunde zusammengebracht hat die Anziehungskraft der Folklore, die wie vieles Traditionelle von den Menschen gerade jetzt wertgeschätzt wird, wo sie im Zuge der Globalisierung zu verschwinden droht. Man sieht es in diesen Tagen, an denen viel demonstriert wird: Das Fremde kann Argwohn oder Ängste hervorrufen, aber es kann auch mit offenen Armen empfangen und manchmal gar zum Faszinosum werden.

Lothar Frase hat sich in ganz jungen Jahren ins südslawische Brauchtum verliebt. Als Naturbursche und singender oder Gitarren klampfender Wandervogel der Bündischen Jugend angehörend, bekam er irgendwann einen Bildband zu Gesicht, der Eindrücke vom Leben auf dem Balkan präsentierte. Da waren Frauen in Pluderhosen und Männer in Pelzmützen, die auf Eseln unterwegs waren und zum Bach gingen, um ihre Wäsche zu reinigen. „Da habe ich gemerkt, dass ich die Welt überhaupt nicht kenne und wollte da unbedingt hin.“

Ein erster Versuch, durch Titos Jugoslawien bis nach Mazedonien zu gelangen, scheiterte Ende der 1950er-Jahre. Frase war mit zwei anderen jungen Burschen unterwegs, doch das Trampen nervte, weil die verlassenen Straßen nur selten von Autos befahren wurde. Dafür kamen Eselskarren und Händler mit ihren Tragtieren. Da auch die Tauschgeschäfte mit in Österreich gekauften Nylons, Kugelschreibern und Rasierklingen nicht den erhofften Ertrag zeitigten, ging den Reisenden auf einem Basar in Bosnien endgültig das Geld aus. Doch gelohnt hatte sich die Reise allemal. Frase: „Ich hatte den Orient erlebt.“

Hochzeit als Schlüsselerlebnis

Später ging es mit einem R 4 über die Alpen. Erst mit Brigitte, der späteren Ehefrau, dann immer wieder auch mit den Kindern. „Inzwischen sind wir 50 Mal auf den Balkan gereist, einmal sogar für drei Monate, haben alle Länder dort besucht.“

Frases Favorit ist indes Mazedonien. Dort hatte er sein „Schlüsselerlebnis“: Eine Hochzeit, bei der die Musiker in kleiner Besetzung – Trommel, Gajda und Kaval – auf der geteerten Straße standen und spielten. Sie spielten „diese exotische, diese mitreißende Musik.“ Immer mehr in bunten Farben gekleidete Menschen stolzierten auf den Tanzboden, zu dem die Straße herausgeputzt worden war. Frase liebt dieses Land, das archaische Leben dort. „Das ist ja nicht nicht nur Tausende Kilometer weg von Deutschland, sondern auch mehr als hundert Jahre. Eine Reise in die Vergangenheit.“ Ein kleiner Bach, in dem gewaschen wurde, Trinkwasser aus dem Dorfbrunnen, Wohnhäuser aus Holz mit gestampftem Lehm als Fußböden, Eselreiter und Büffel. Die Frases übernachteten bei ihren Reisen an Bächen und wachten inmitten einer Schafherde auf. Sie trafen viele Menschen und schlossen fast so viele Freundschaften, sowohl mit dem Bürgermeister als auch mit dem Schafhirten. Bisweilen werden sie behandelt wie Familienangehörige. Dabei sind nicht alle Mazedonier sehr kontaktfreudig. Doch in solchen Fällen kommt dem suspekten Fremden die Technik zur Hilfe: „Fotos sind der Türöffner. Ich habe viele Menschen porträtiert und ihnen dann die Bilder gezeigt. Manche haben zum ersten Mal ein Foto gesehen.“

Nach und nach gelang es den Frases, die Zeit zwischen den Reisen auf den Balkan immer besser zu verkürzen. Das tänzerische Repertoire wurde erweitert, auch dank Lehrmeistern wie Pece Atanasovski, der in Mazedonien ein Star ist. Verschiedene Instrumente und traditionelle Trachten, die mit ihren bunten Ponpons auf weißem Filz und ihren bedeutungsvollen Mustern auf kaukasischen Ursprung verweisen, hat man sich beschafft. Frase hofft, dass das alles bewahrt wird, wenn er seine Aufgaben in der Gruppe einmal in jüngere Hände legt. „Dass es uns nach 20 Jahren noch geben würde, hätte ich übrigens nie gedacht“, verrät er mit einem Schmunzeln.



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